Konzept: Die fortschreitende Gottesoffenbarung

Blätter

Blätter eines Baumes

Die Bahá’í glauben an eine fortschreitende Offenbarung des göttlichen Willens. Das, was die Menschheit als mehrere, voneinander getrennte Religionen wahrnimmt, ist in der Bahá’í-Lehre als unterschiedlicher Ausdruck einer einzigen Religion benannt. Der jeweilige Stifter der großen Weltreligionen ist Mittler und Sprachrohr des einen Gottes, Dessen Wesen für Seine Geschöpfe unerkannt bleibt, da Er unabhängig von Seiner Schöpfung und unermesslich erhaben darüber herrscht.

In Seinen Schriften versichert Bahá’u’lláh, dass im Reich des Geistes eine „wesenhafte Einheit“ zwischen allen Manifestationen Gottes bestehe. Einer wie alle enthüllen „Gottes Schönheit“, offenbaren Seine Namen und Eigenschaften und verkünden Seinen Willen. Er schreibt:

Sollte eine der allumfassenden Manifestationen Gottes erklären: »Ich bin Gott!«, so spräche sie gewisslich die Wahrheit, und es gäbe daran keinen Zweifel. Denn wiederholt wurde dargetan, dass durch ihre Offenbarung, ihre Attribute und Namen die Offenbarung Gottes, Seine Namen und Seine Attribute in der Welt offenkundig gemacht sind. […] Denn sie alle sind nur eine Person, eine Seele, ein Geist, ein Wesen, eine Offenbarung. Sie alle sind die Manifestationen des »Anfangs« und des »Endes«, des »Ersten« und des »Letzten«, des »Sichtbaren« und des »Verborgenen« (Qur’án 57:4) – all dies kommt Ihm zu, Ihm, dem innersten Geist der Geister und der ewigen Inbegriffe des Seins. Und würden sie sagen: »Wir sind Gottes Diener« (vgl. Qur’án 3:182; 5:118; 19:30), so wäre auch dies eine offenkundige, unbestreitbare Wahrheit. Denn sie haben sich im äußersten Zustand des Dienens offenbart, eines Dienens, wie es kein Mensch je erreichen kann. Darum haben diese Inbegriffe des Seins in Augenblicken, da sie tief in die Meere altehrwürdiger, ewigwährender Heiligkeit eintauchten, oder wenn sie zu den erhabensten Höhen göttlicher Mysterien emporstiegen, den Anspruch erhoben, dass ihre Sprache die Stimme der Gottheit, der Ruf Gottes selbst sei.

Bahá’u’lláh, Buch der Gewissheit

Wenn auch die Manifestationen die Namen und Attribute Gottes offenbaren und der Menschheit den Zugang zur Erkenntnis Gottes eröffnen, dürfen sie jedoch nach Shoghi Effendi „niemals … mit jener unsichtbaren Wirklichkeit, mit dem Wesen der Gottheit selbst gleichgesetzt werden“. Über Bahá’u’lláh schreibt der Hüter, dass der „zum Träger einer derart überwältigenden Offenbarung erkorene menschliche Tempel“ niemals mit der „Wirklichkeit“ Gottes gleichgesetzt werden darf.

Jeder dieser Gottesboten hat den nächsten in der Reihe angekündigt, während Er gleichzeitig den letzten anerkannt und dessen göttlichen Auftrag bestätigt hatte. Auch im Christentum wird die Wiederkunft des Christus erwartet, während die Propheten vor ihm alle anerkannt sind. Genau so werden im Bahá’í-Glauben alle vorhergehenden Gottesboten anerkannt. Alle bringen der Menschheit eine Botschaft von Gott, passend zur geistigen Fassungskraft der Menschen und passend zu den Problemen jener Zeitabschnitte.

Seit den Tagen Adams bis heute wurden die Religionen Gottes offenbart; eine folgte der anderen, und jede erfüllte ihre Aufgabe, belebte die Menschheit, gab ihr Erziehung und Erleuchtung. Sie erlösten das Volk aus dem Dunkel der stofflichen Welt und führten es in den Glanz des Gottesreiches. Jeder nachfolgende Glaube, jedes neu offenbarte Gesetz blieb jahrhundertelang ein überaus fruchtbarer Baum, dem das Glück der Menschheit anvertraut war. Aber im Laufe der Jahrhunderte alterte er, blühte nicht mehr und brachte keine Frucht mehr hervor. Deshalb wurde er wieder verjüngt.

Gottes Religion ist eine einzige Religion, aber sie muss immer wieder erneuert werden. Moses zum Beispiel wurde zu den Menschen gesandt; Er gab ein Gesetz, und durch dieses Mosaische Gesetz wurden die Kinder Israels aus ihrer Unwissenheit befreit und ins Licht geführt. Sie wurden aus ihrem Elend emporgehoben und erlangten unvergängliche Herrlichkeit. Und doch, als die langen Jahre vergingen, verblasste dieser Glanz, die Pracht verschwand, der helle Tag wurde zur Nacht, und als die Nacht stockdunkel war, ging der Stern des Messias auf, so dass wieder eine Herrlichkeit über der Welt leuchtete.

Was wir sagen wollen, ist folgendes: Es gibt nur eine Religion Gottes. Sie ist die Erzieherin der Menschheit, aber sie muss erneuert werden. Wenn du einen Baum pflanzt, wächst er Tag für Tag. Er blüht, bekommt Blätter und saftige Früchte. Nach langer Zeit aber wird er alt und trägt keine Frucht mehr. Dann nimmt der Gärtner der Wahrheit Samen von eben diesem Baum und legt ihn in unverbrauchte Erde. Und siehe! Bald steht da der erste Baum, genauso wie er vordem war.

‚Abdu’l-Bahá, Briefe und Botschaften 23:2-4

Zum Begriff der Einheit

Olive Trees Bahai GardensDas Konzept der fortschreitende Gottesoffenbarung verhilft im Bahá’í-Glauben zu einem guten Verständnis über die Geschichte der Menschheit und dem einen wahren Gott, der über dieser Entwicklung wacht. Doch zuvor gilt es einige grundlegende Aspekte zu betrachten, welche die Einheit betreffen. Einheit ist ein wichtiger, wenn nicht gar der wichtigste Begriff im Bahá’í-Glauben. Es sind drei Ebenen der Einheit zu unterscheiden:

  • die Einheit Gottes
  • die Einheit der Religionen
  • die Einheit der Menschheit

Die Einheit Gottes erklärend, sagt Bahá’u’lláh:

Betrachte den einen, wahren Gott als Einen, der anders als alles Erschaffene und unermesslich darüber erhaben ist. Das ganze Weltall strahlt Seine Herrlichkeit wider, während Er selbst von Seinen Geschöpfen unabhängig ist und sie weit überragt. Dies ist die wahre Bedeutung göttlicher Einheit. Er, die ewige Wahrheit, ist die eine Macht, welche unbestrittene Herrschaft über die Welt des Seins ausübt, eine Macht, deren Bild im Spiegel der ganzen Schöpfung zurückgeworfen wird. Alles Dasein hängt von Ihm ab, und aus Ihm strömt der Lebensquell aller Dinge. Dies ist die Bedeutung göttlicher Einheit, dies ist ihr Grundgedanke.

Bahá’u’lláh

Zwei Aspekte dieses Grundgedankens möchte ich hier ansprechen:  zum einen die unermessliche Erhabenheit Gottes über Seine Schöpfung, zum anderen die Widerspiegelung Seiner ausübenden Macht in der Welt des Seins.  Für den Menschen ist diese Allbeherrschung Gottes nicht einfach zu erkennen, gibt es doch nichts, das diesem Herrschaftsbereich entrückt wäre. Wie ein Fisch in der Tiefe des Ozeans, der das Wasser nicht benennen kann, weil er immer und überall von ihm umgeben ist.

Die Manifestationen Gottes, wie Bahá’u’lláh die Propheten, die Gesandten Gottes nennt, ragen in der Welt des Seins wie Bergesspitzen aus dem Ozean der Herrschaft Gottes und künden den Menschen in einer Art und einer Sprache, wie sie die Menschen verstehen können, den Willen Gottes. Bahá’u’lláh sagt:

Der Glaube an die göttliche Einheit besteht im wesentlichen darin, Ihn, die Manifestation Gottes, und Ihn, das unsichtbare, unzugängliche, unerkennbare Wesen, als einen und denselben zu betrachten. Das bedeutet, dass alles, was dem erstgenannten angehört, all Sein Tun und Handeln, Sein Gebot oder Verbot in jeder Hinsicht, unter allen Umständen und ohne Vorbehalt dem Willen Gottes gleich ist.

Bahá’u’lláh

In diesem Zitat verbindet der Gründer der Bahá’ì-Religion die Einheit Gottes mit der Einheit der Gottesoffenbarer. Daraus erklärt sich die Einheit der Religionen. Denn so gesehen entsprechen alle Weltreligionen, die auf einen Gottesoffenbarer zurückgehen, einer einzigen Religion. Eine Religion mit vielen Namen. Äußerlich mögen sie sich unterscheiden, ihrem Wesen nach sind sie aber vollkommen identisch. Die äußeren Unterschiede in den Religionen entsprechen exakt den Bedürfnissen und der Fassungskraft der Menschen jener Zeit.

Ohne Zweifel verdanken die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle und sind einem einzigen Gott untertan. Unterschiede der Regeln und Riten, denen sie unterstehen, müssen den wechselnden Anforderungen und Bedürfnissen der Zeitalter zugeschrieben werden, in denen sie offenbart wurden. Alle bis auf wenige, die aus menschlicher Verderbtheit entstanden, wurden von Gott verordnet und sind eine Widerspiegelung Seines Willens und Zieles. Erhebt euch und schlagt, bewaffnet mit der Kraft des Glaubens, die Götzen eurer leeren Einbildungen in Stücke, die Zwietracht unter euch säen. Haltet euch an das, was euch zusammenführt und einig macht.

Bahá’u’lláh

Die im Zitat letztgenannte Einigkeit der Menschen war immer schon Ziel der Offenbarungsreligionen. In einem anderen Schreiben sagt Bahá’u’lláh:

O ihr Menschenkinder! Der Hauptzweck, der den Glauben Gottes und Seine Religion beseelt, ist, das Wohl des Menschengeschlechts zu sichern, seine Einheit zu fördern und den Geist der Liebe und Verbundenheit unter den Menschen zu pflegen. Lasst sie nicht zur Quelle der Uneinigkeit und der Zwietracht, des Hasses und der Feindschaft werden. Dies ist der gerade Pfad, die feste, unverrückbare Grundlage.

Bahá’u’lláh

Die Vereinigung der ganzen Menschheit ist der nächste logische Schritt in dieser Epoche der Menschheitsentwicklung. Unsere Geschichte ist untrennbar verbunden mit einer Bestimmung, einer Bestimmung, die mit dem Willen des Schöpfers aller Dinge untrennbar verbunden ist.

Er, der euer Herr ist, der Allerbarmer hegt in Seinem Herzen den Wunsch, die ganze Menschheit als eine Seele und einen Körper zu sehen. Eilt, euren Anteil an Gottes Huld und Barmherzigkeit zu erlangen an diesem Tage, der alle anderen erschaffenen Tage in den Schatten stellt.

Bahá’u’lláh